24
Es kam Tess vor, als strahlten die Farben der frühen Morgendämmerung leuchtender als sonst. Die frische Novemberluft wirkte belebend, als sie den kurzen Spaziergang mit Harvard beendete. Als sie und der Terrier die Stufen zu ihrer Wohnung hinaufliefen, fühlte sie sich stärker, leichter, spürbar befreit von den schrecklichen Geheimnissen, die sie all die Jahre für sich behalten hatte.
Sie musste Dante dafür dankbar sein. Sie musste ihm für so vieles dankbar sein, dachte sie mit klopfendem Herzen, und ihr Körper summte noch von dem süßen Kater ihrer Liebesnacht.
Sie war sehr enttäuscht, als sie beim Aufwachen feststellte, dass er schon gegangen war. Aber die Nachricht, die er gefaltet auf dem Nachttisch für sie hinterlassen hatte, nahm ihrer Enttäuschung die Spitze. Tess zog den Zettel aus ihrer Hosentasche, sobald sie die Wohnungstür geöffnet und Harvard von der Leine gelassen hatte.
Sie schlenderte in die Küche, um sich einen Kaffee zu machen, und las die Nachricht mit Dantes ausgeprägter Handschrift zum zehnten Mal mit einem breiten Grinsen im Gesicht.
Wollte dich nicht wecken, musste aber los. Morgen zusammen Abendessen? Will dir zeigen, wo ich wohne. Rufe dich an. Schlaf schön aus, mein Engel.
Dein D.
Dein Dante, hatte er geschrieben.
Ihr Dante.
Eine Flut von Besitzerstolz überschwemmte sie bei dem Gedanken. Tess ermahnte sich streng. Der Zettel bedeutete nichts.
Es war töricht, etwas in Dantes Worte hineinzuinterpretieren, und albern, gleich anzunehmen, dass die starke Verbundenheit, die sie empfand, auf Gegenseitigkeit beruhte. Trotzdem war sie geradezu überschäumend, als sie die Notiz auf die Anrichte legte.
Sie betrachtete den kleinen Hund, der um ihre Füße tanzte und auf sein Frühstück wartete. „Also, Harvard. Was denkst du?
Stecke ich zu tief drin? Ich werde doch nicht mein Herz verlieren, oder?“
Gott, war sie etwa … ernstlich verliebt?
Vor einer Woche hatte sie noch nicht gewusst, dass es ihn gab. Wie konnte sie da ernsthaft glauben, dass sie so schnell so große Gefühle entwickelte? Aber irgendwie war es so. Sie war dabei, sich in Dante zu verlieben. Hatte sich womöglich schon Hals über Kopf verliebt, wenn sie nach dem Herzklopfen ging, das sie bekam, wenn sie nur an ihn dachte.
Harvards aufforderndes Kläffen riss sie aus dem freien Fall ihrer Gefühle. „Ach ja“, sagte sie und sah hinunter in sein pelziges Gesicht. „Frühstück und Kaffee, das war der Plan. Bin schon dabei.“
Sie füllte Kaffee und Wasser in die Maschine, drückte den Knopf, um den Brühvorgang zu starten, und holte dann das Hundefrühstück und eine Schüssel aus dem Schrank. Als sie am Telefon vorbeikam, sah sie, dass die Nachrichtenanzeige blinkte.
„Hier, für dich, kleiner Schatz“, sagte sie, füllte eine Portion Büchsenfleisch in Harvards Napf und stellte ihn auf den Boden.
„Bon appetit.“
Mit der mehr als leisen Hoffnung, Dante könnte sich gemeldet haben, während sie mit seinem Hund draußen war, drückte sie den Knopf, der die Nachrichtenwiedergabe aktivierte, und stellte auf Lautsprecher. Sie wartete ungeduldig, gab ihren Zugangscode ein, hörte, wie die automatische Stimme eine neue Nachricht mit dem Uhrzeitcode von letzter Nacht ankündigte, und ließ sie sich vorspielen.
„Tess! Verdammt noch mal, warum nimmst du den verschissenen Hörer nicht ab?“
Das war bloß Ben. Aber bei dem merkwürdigen Klang seiner Stimme schlug ihre Enttäuschung sofort in Sorge um. Sie hatte ihn noch nie so in Panik gehört, er schien komplett die Beherrschung verloren zu haben. Sein Atem ging schwer und keuchend. Die Worte sprudelten aus ihm heraus. Er war nicht einfach nur verängstigt. Er war zu Tode erschrocken. Beklemmung packte sie mit eisigen Krallen, als sie den Rest des Anrufs abhörte.
„… muss dich einfach warnen. Der Typ, mit dem du dich triffst, ist nicht, wofür du ihn hältst. Die haben heute Nacht meine Bude gestürmt - er und noch ein Kerl. Ich dachte, sie würden mich umbringen, Tess! Aber jetzt hab ich um dich Angst. Du solltest dich von dem Mann fernhalten. Der steckt in irgendwas Üblem mit drin
… ich weiß, das klingt verrückt, aber der andere Kerl, der bei ihm war … ich glaube nicht - verdammt - ich muss es einfach sagen - ich glaube nicht, dass er menschlich ist. Vielleicht keiner von beiden.
Der Kerl hat mich in einem Geländewagen entführt - ja, Ich hätte versuchen sollen, das Nummernschild zu lesen und mir einzuprägen oder so, aber das ging alles so beschissen schnell. Er ist mit mir runter zum Fluss und hat mich angefallen, Tess. Der Mistkerl hatte diese riesigen Zähne - das waren Fangzähne, ich schwöre bei Gott, und seine Augen haben geglüht, als stünden sie in Flammen. Der war nicht menschlich. Tess, die sind nicht … menschlich.“
Sie trat von der Anrichte weg, während die Aufzeichnung weiterlief. Bens verzerrte Stimme erschreckte sie mindestens so sehr wie das, was er sagte.
„… Arschloch hat mich gebissen - er hat meinen Kopf gegen die Scheibe geknallt und wie ein Irrer auf mich eingeschlagen, und dann … er … verdammte Scheiße … er hat mich allen Ernstes gebissen! Verdammt noch mal, mein Hals blutet immer noch. Ich muss ins Krankenhaus oder so …“
Tess wich ins Wohnzimmer zurück, als könnte der räumliche Abstand von Bens Stimme sie vor dem bewahren, was sie hörte.
Sie wusste nicht, was sie davon halten sollte.
Wie konnte Dante - wenn auch nur als Mittäter - in einen solchen Angriff auf Ben verwickelt sein? Sicher, als er letzte Nacht waffenstarrend und blutend - ganz offensichtlich von einer Kampfverletzung - bei ihr aufgetaucht war, sagte er, er hätte einen Dealer verfolgt. Es war durchaus möglich, dass er damit Ben gemeint hatte. Betrübt musste sie sich eingestehen, dass bei Ben ein solcher Rückfall in alte Gewohnheiten schon denkbar war.
Aber jetzt erzählte er totalen Unsinn. Menschen, die sich in Monster mit Fangzähnen verwandelten? Raserei und Gewalttätigkeit wie aus einem Horrorfilm? Solche Dinge fanden im richtigen Leben nicht statt, nicht einmal in den härtesten Gefilden der Realität. Es war schlicht unmöglich.
War es das?
Tess stand mit einem Mal vor der abgedeckten Skulptur, an der sie letzte Nacht gearbeitet hatte. Der Skulptur, die Ähnlichkeit mit Dante hatte. Die sie jedoch verpfuscht hatte und wahrscheinlich wegwerfen würde. Sie hatte doch die Mundpartie völlig verhunzt, oder? Irgendwie war da ein skurriles Zähnefletschen entstanden, das ihm überhaupt nicht ähnelte …
Ihre Finger kribbelten, als sie nach dem Stoff griff, der das Stück verdeckte. Verwirrung und eine seltsame, quälende Furcht saßen ihr wie ein Stein im Magen, als sie den Saum des Gewebes erfasste und es von der Büste zog. Ihr stockte der Atem, als sie sah, was sie modelliert hatte. Der Fehler, den sie gemacht hatte, verlieh Dante ein wildes, animalisches Aussehen - scharfe, lange Reißzähne verwandelten sein Lächeln in ein raubtierhaftes Fletschen.
Unerklärlicherweise hatte sie ihm Fangzähne verpasst.
„Ich habe echt Angst, Tess. Um uns beide“, ertönte Bens Stimme aus dem Lautsprecher des Anrufbeantworters. „Bitte … was auch immer du tust, halt dich um Himmels willen von diesen Typen fern.“
Dante ließ seine Malebranche-Klingen wirbeln, eine in jeder Hand. Der Stahl blitzte im Neonlicht der Trainingsanlage ihres Quartiers. Dann fuhr er mit atemberaubender Schnelligkeit herum, griff die Polymer-Übungspuppe an und hieb zentimetertief klaffende Scharten in die dicke Plastikhaut. Mit einem Aufbrüllen drehte er sich einmal um sich selbst und stürzte erneut auf den lebensgroßen Dummy los.
Er brauchte wenigstens die Simulation eines richtigen Kampfes.
Wenn er noch länger untätig herumsaß, würde er noch irgendjemanden umbringen. Im Moment stand Sterling Chase, der Agent aus dem Dunklen Hafen, ganz oben auf seiner Liste.
Dicht gefolgt von Ben Sullivan, der verdammten Nummer zwei.
Zur Hölle, am besten wäre es, wenn er beide auf einmal erledigen könnte.
Er kochte vor Wut, seit er zum Anwesen zurückgekehrt war und erfahren hatte, dass der Agent mit ihrem Crimson-Dealer nicht aufgetaucht war. Lucan und die anderen hielten sich für den Moment noch an die Devise: im Zweifel für den Angeklagten. Aber Dante hatte das unbestimmte Gefühl, dass Chase seinen Befehl, Sullivan ins Quartier zu bringen, bewusst missachtet hatte.
Dante musste herausfinden, was passiert war, aber Anrufe und E-Mails an die Adresse des Agenten im Dunklen Hafen erbrachten keinerlei Rückmeldung. Unglücklicherweise würde eine persönliche Befragung bis Sonnenuntergang warten müssen.
Was noch rund zehn verflixte Stunden hin ist, dachte Dante und führte einen weiteren wilden Angriff gegen die Übungspuppe aus.
Was das Warten besonders schlimm machte, war, dass er Tess nicht erreichen konnte. Er rief gleich morgens in ihrem Apartment an, aber sie hatte es wohl schon verlassen und war zur Arbeit gegangen. Er konnte nur hoffen, dass sie in Sicherheit war. Falls Chase Ben Sullivan nicht umgebracht hatte, lief der Kerl womöglich frei auf der Straße herum, und das hieß, er konnte Tess aufsuchen. Dante glaubte zwar nicht unbedingt, dass ihr von ihrem Exfreund Gefahr drohte, aber er hätte lieber alle Risiken ausgeschlossen.
Er musste sie dringend hierherholen. Er musste ihr alles erklären, auch, wer er wirklich war - was er wirklich war. Und er musste ihr beichten, dass, wie und warum er sie in diesen Krieg zwischen dem Stamm und dessen Feinden hineingezogen hatte.
Er hatte geplant, sich heute Nacht mit ihr auszusprechen, und das mit seiner Nachricht auf ihrem Nachttisch bereits in die Wege geleitet. Aber jetzt wurde er das Gefühl nicht los, dass die Zeit drängte. Er wollte es hinter sich bringen, und er fand es unerträglich, so weit von ihr entfernt zu sein, während er darauf wartete, dass die Nacht anbrach.
Mit Gebrüll stürzte er sich wieder auf die Puppe und schwang seine Arme so schnell, dass sogar er selbst die Attacke kaum mit den Augen verfolgen konnte. Er hörte, wie hinter ihm die Glastüren zur Trainingseinrichtung aufglitten, aber er war zu sehr mit seinem wütenden Frust beschäftigt und scherte sich einen Dreck darum, ob er Zuschauer hatte. Er schlug, stieß, stach und metzelte auf die Puppe ein, bis er vor Anstrengung keuchte und Schweiß auf seiner nackten Haut glänzte. Schließlich hielt er inne, selbst verwundert über die Wucht seiner Wut.
Die Übungspuppe war völlig zerstückelt, das meiste lag in zerfetzten Teilen um ihn herum.
„Nette Arbeit“, bemerkte Lucan gedehnt von der anderen Seite der Halle. „Hast du was gegen Plastik oder machst du dich nur warm für heute Nacht?“
Dante stieß einen Fluch aus. Er wirbelte seine Klingen nochmals herum, ließ das gebogene Metall tanzen, bevor er beide Waffen in die Scheiden versenkte, die um seine Hüfte geschnallt waren. Dann wandte er sich dem Anführer des Ordens zu, der an einem Waffenschrank lehnte und in seiner dunklen Kleidung sehr würdevoll aussah.
„Es gibt Neuigkeiten“, sagte Lucan, der offenbar davon ausging, dass sie nicht gut ankommen würden. „Gideon hat sich in die Personaldatenbank der Agentur gehackt und musste feststellen, dass Agent Sterling Chase nicht mehr für sie arbeitet. Sie haben ihn letzten Monat aus dem Dienst entlassen, nach einer fünfundzwanzigjährigen Bilderbuchkarriere.“
„Er wurde gefeuert?“
Lucan nickte. „Wegen Insubordination und eklatanter Weigerung, Anweisungen der Agentur zu befolgen. So steht es in der Akte.“
Dante trocknete sich ab und stieß ein humorloses Lachen aus. „Der gediegene Agent Sterling ist letzten Endes gar nicht so gediegen, was? Verdammt, ich wusste, dass mit dem Kerl was nicht stimmt. Er hat uns von Anfang an verarscht. Warum?
Worauf ist er aus?“
Lucan hob die Schultern. „Vielleicht brauchte er uns, um an den Crimson-Dealer ranzukommen. Wer sagt, dass er den Kerl letzte Nacht nicht einfach umgebracht hat? Irgendeine Art persönlicher Vendetta.“
„Vielleicht. Ich weiß es nicht, aber ich werde es herausfinden.“
Dante räusperte sich. Er fühlte sich plötzlich befangen in der Gegenwart des älteren Vampirs, der schon seit Langem sein Waffenbruder war - und sein Freund.
„Hör mal, Lucan. Ich habe in letzter Zeit auch nicht immer ganz nach den Regeln gespielt. Es ist etwas geschehen - in der Nacht, als die Rogues mir unten am Fluss beinah den Arsch aufgerissen hätten. Ich … also, ich bin irgendwie im Hinterzimmer einer Tierklinik gelandet. Eine Frau war noch da und machte Spätschicht. Ich brauchte ganz entsetzlich dringend Blut, und sie war die Einzige weit und breit.“
Lucans dunkle Augenbrauen senkten sich zu einem finsteren Blick. „Du hast sie getötet?“
„Nein. Nein! Ich war zwar nicht ich selbst, aber so weit bin ich nicht gegangen. Allerdings weit genug. Ich war mir nicht im Klaren darüber, was ich ihr antat, bis es zu spät war. Als ich das Mal auf ihrer Hand sah …“
„O verdammt, Dante.“ Der große Mann starrte ihn an, seine grauen Augen durchbohrten ihn. „Du hast von einer Stammesgefährtin getrunken?“
„Ja. Ihr Name ist Tess.“
„Weiß sie es? Was hast du ihr erzählt?“
Dante schüttelte den Kopf. „Sie weiß bis jetzt überhaupt nichts. Ich habe ihr noch in derselben Nacht die Erinnerung genommen. Aber ich habe … na ja … Zeit mit ihr verbracht.
Eine Menge Zeit. Ich muss ihr erklären, was los ist, Lucan. Sie hat ein Recht auf die Wahrheit. Selbst wenn sie mich dafür hassen sollte, was mich nicht überraschen würde.“
Lucans kluge Augen wurden schmal. „Sie bedeutet dir etwas.“
„Gott, ja! Und ob.“ Dante lächelte dünn. „Das habe ich wahrhaftig nicht kommen sehen, das kannst du mir glauben.
Um die Wahrheit zu sagen, ich weiß noch nicht genau, was ich daraus machen soll. Ich bin nicht gerade das, was man sich unter einem Wunschgatten vorstellt.“
„Glaubst du vielleicht, ich bin das?“, fragte Lucan trocken.
Es war erst ein paar Monate her, dass Lucan einen ähnlichen persönlichen Zwiespalt erlebt und sein Herz an eine Frau verloren hatte, die das Mal der Stammesgefährtinnen trug. Dante wusste nichts Genaues darüber, wie Lucan Gabrielle für sich gewonnen hatte, aber ein Teil von ihm beneidete das Paar um die lange Zukunft, die sie miteinander verbringen würden. Alles, was Dante für seine Zukunft sah, war ein Tod, mit dem er schon seit einigen Jahrhunderten Fangen spielte.
Wenn er daran dachte, dass Tess an jenem Tag womöglich bei ihm sein könnte, gefror ihm das Blut in den Adern.
„Ich weiß noch nicht, was sich daraus ergibt, aber ich muss ihr alles erzählen. Ich würde sie gern heute Abend hierherbringen. Vielleicht hilft das beim Geraderücken.“ Er fuhr sich mit der Hand durch das feuchte Haar. „Ach zum Teufel, vielleicht bin ich auch bloß eine Memme und will sicher sein, dass meine
…“, fast hätte er Familie gesagt, „… dass der Orden in dieser Frage hinter mir steht.“
Lucan lächelte und nickte langsam. „Da kannst du sicher sein“, sagte er und klopfte Dante auf die Schulter. „Ich muss sagen, ich bin gespannt, die Frau kennenzulernen, die einen der wildesten Krieger, den ich kenne, dermaßen das Fürchten lehrt.“
Dante lachte. „Sie ist toll, Lucan. Verdammt, sie ist einfach unglaublich toll.“
„Wenn du bei Sonnenuntergang losziehst, um Chase zu befragen, nimm Tegan mit. Bringt Chase in einem Stück hierher, verstehen wir uns? Dann kannst du die Sache zwischen dir und deiner Stammesgefährtin klären.“
„Chase kann ich handhaben“, sagte Dante. „Was das andere angeht, bin ich nicht so sicher. Hast du irgendeinen Rat für mich, Lucan?“
„Sicher.“ Der Vampir grunzte und lächelte schadenfroh.
„Staube deine Knie ab, Bruder. Weil du nämlich verdammt noch mal auf ihnen kriechen wirst, ehe die Nacht vergeht.“